Van Herpens Fähigkeit, mit einem breiten Spektrum von Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten – von Biologen und Philosophen bis hin zu Sounddesignern und Kunsthandwerkern aus verschiedenen Kulturen – spiegelt ihre vielfältigen Interessen und ihre unglaubliche Phantasie wieder. Diese reichen von der Faszination für ein Insekt bis zur Beschäftigung mit den Weiten des Kosmos, von der Technik hinter einer Maschine bis zu den Visionen eines luziden Traums.
Als vielseitig begabte Künstlerin lässt sie durch Handarbeit und Maschinen weit mehr als nur Kleider hervorbringen. Philosophisch, poetisch und mit und mit großem Engagement hinterfragt sie eine moderne Welt, die in Paradoxien gefangen ist und an Klima- und Gesellschaftskrisen erstickt. Saison für Saison widmet sie sich in sensibler und aufschlussreicher Zusammenarbeit mit Architekten, zeitgenössischen Künstlern und Designern bestimmten Themen: Wasser, Luft, Schwerelosigkeit, das Skelett, Kristallisation, Metamorphose, Hybridisierung, Hypnose, die Seele, Synästhesie, luzides Träumen, Wiedergeburt… Indem sie die Grenzen klassischer und traditioneller Denk- und Sichtweisen energisch verschiebt. Sie erforscht das Potenzial der Vorstellungskraft, die Wahrnehmung der Welt zu verändern, eine Welt, die sie immer wieder aufs Neue verzaubert.
In ihrer Kollektion „Between the Lines“ tauchte sie in die faszinierende Welt der Unvollkommenheit ein, sowohl in unserem physischen als auch im digitalen Dasein. Hierbei legte Van Herpen ihr Augenmerk nicht auf die Strukturen ihrer Materialien, sondern vielmehr auf das, was dazwischen liegt – sie kreierte Muster, die die gewohnte Wahrnehmung des menschlichen Körpers auf subtile Weise verändern oder gar entziehen.
Fashion wird zum wissenschaftlichen Kunstwerk
Durch das Spiel mit Aufbau und Verzerrung der Muster, forderte sie die Sehgewohnheiten heraus und lud dazu ein, die entstehenden neuen Formen zu erkunden. Es sind die linearen Verschiebungen und die markanten Gegensätze, die ihren innovativen Zugang zur Entwicklung von Materialien und Mustern prägen, uns dazu anregen, das etablierte System zu hinterfragen und die verborgenen Zwischenräume zu entdecken. In ihrer Vision für diese Ausstellung fand van Herpen Unterstützung bei der Berliner Künstlerin Esther Stocker, die für ihre meisterhafte Verzerrung dimensionaler Geometrien bekannt ist. Stocker spielt mit räumlichen Konzepten, bis unser Verstand Verbindungen knüpft, die faktisch nicht existieren. Für die Ausstellung erschuf sie einen Tunnel visueller Täuschungen, in dem die Models sich durch ein Labyrinth aus Licht und Schatten bewegten. Dieses Zusammenspiel aus Linienführung und deren Verzerrung verführte das Auge dazu, in den Zwischenräumen neue Linien zu entdecken.
Die vom November bis April 2024 im Musée des Arts Décoratifs in Paris gezeigte Ausstellung stellte eine Vielzahl von Objekten vor, darunter zeitgenössische Kunstwerke, Objekte und Einrichtungsgegenstände, die zum Teil eigens für die Ausstellung angefertigt wurden, sowie alte Fossilien und Naturpräparate, die verblüffende Parallelen zu van Herpens eigenen Entwürfen aufweisen. Diese Vielfalt unterstreicht die Weite ihres Inspirationshorizonts und ihre Fähigkeit, scheinbar disparate Elemente in ihren Kreationen zu vereinen.
EIN NATURFORSCHER DES 19. JAHRHUNDERTS als INSPIRATIONSQUELLE
Eine zentrale Inspirationsquelle für van Herpen ist das Werk von Ernst Haeckel, einem deutschen Biologen, Naturforscher und Künstler des 19. Jahrhunderts, dessen Leben und Werk die Schönheit der Natur in all ihrer Komplexität einfängt. Haeckels Engagement für die Dokumentation der Tier- und Pflanzenwelt von den höchsten Berggipfeln bis zu den tiefsten Meeren und seine bahnbrechenden Zeichnungen und Aquarelle, insbesondere seine Arbeit in „Kunstformen der Natur“ (eine Neuauflage ist im Taschen Verlag erschienen) , haben Generationen von Künstlern und Designern beeinflusst, darunter auch van Herpen.
Während Ernst Haeckels Einfluss auf van Herpen unbestreitbar groß ist, vor allem in der Art und Weise, wie seine detaillierten Darstellungen der Natur in ihren Designs mittels 3D-Drucktechnologie neu interpretiert werden, zeigen die Werke van Herpens eine tiefergehende Perspektive. Ihr Ansatz, Mode als ein Medium zu begreifen, das die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie überschreitet, wird durch ihre Fähigkeit, Verbindungen zwischen scheinbar unvereinbaren Welten herzustellen, noch deutlicher. Neben ihren zahlreichen Inspirationsquellen ist es die Kombination aus dem Einfluss Haeckels, der 3D-Drucktechnologie und van Herpens eigener grenzenloser Neugier und ihrem Engagement für die Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg, die ihre Arbeit so einzigartig macht.
weiterführende Informationen
So heißt eine ausführliche Dokumentation vom Hight Museum of Arts, Atlanta auf Google Arts & Culture. Mit einem Porträt und Interview sowie zahlreichen Abbildungen und Texten zu ihren gesamten Kollektionen.
Website der Künstlerin mit vielen Videos, Texten und einem Shop.
Ernst Haeckel. Kunst und Wissenschaft
40. Auflage der Zeichnungssammlung, 512 Seiten, TASCHEN Verlag, ISBN 978-3-8365-8426-5, 25 Euro